Gábor Endrődi
Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut für Kunstgeschichte, Eötvös-Loránd-Universität, Budapest
Zusammenfassung: Die allegorischen Figuren der vier Kardinaltugenden an der Rückseite des Lettners und beim Eingang zur Chorscheitelkapelle in der Stiftskirche Jung St. Peter in Straßburg sind in ihrer heutigen Erscheinung Zeugnisse der 1897 bis 1904 unter der Leitung von Carl Schäfer vollführten Restaurierung. Bei zwei Figuren entsprechen das Figuren- und Gewandmotiv genau den stehenden Heiligen auf dem linken Flügel des Lichtenthaler Nonnenchoraltars von 1496. Im Rahmen eines laufenden Forschungsprojektes versuche ich diesen Altarflügel zusammen mit weiteren Tafelbildern und einer Reihe von Holzschnitten dem bisher wenig bekannten Straßburger Maler Hans Schrotbanck zuzuschreiben. Die Tugendfiguren in Jung St. Peter zeigen auch an Schrotbancks übriges Werk einige stilistische und motivische Anklänge, die bloß mit der Vorbildwirkung des Lichtenthaler Retabels schwer zu erklären wären. Bei der Ikonografie der Tugendallegorien stützte sich der Maler überraschenderweise auf die Reliefs am Sockel von Orcagnas Tabernakel in Orsanmichele in Florenz. Im Vortrag möchte ich die Frage auf die Waage legen, bei welcher Datierung dieser Befund besser zu erklären ist: Ist der Zyklus der Tugendfiguren insgesamt ein Produkt des Historismus, eine Synthese Schäfers aufgrund Vorbilder unterschiedlicher Provenienz? Oder lässt es sich doch wahrscheinlich machen, dass um 1900 in situ gefundene Wandbilder aus der Zeit um 1500 erneuert wurden? Würde der Rückgriff auf das italienische Vorbild um 1500 oder um 1900 plausibler erscheinen? Nur mit kunsthistorischen Mitteln kann diese Frage wohl nicht mit Sicherheit entschieden werden, die stilkritischen Überlegungen können aber die Fragestellungen der weiteren restauratorischen und archivalischen Forschung schärfen.
Les représentations des vertus dans le chœur de l’église collégiale Saint-Pierre-le-Jeune à Strasbourg
Résumé : Dans l’église collégiale Saint-Pierre-le-Jeune de Strasbourg, les figures allégoriques des quatre vertus cardinales, au revers du jubé et à l’entrée de la chapelle d’axe du chœur, témoignent de la restauration réalisée sous la direction de Carl Schäfer de 1897 à 1904. Deux des figures correspondent exactement aux représentations et aux drapés des saints debout sur le volet gauche du retable de Lichtenthal daté de 1496. Dans le cadre d’un projet de recherche, je tente d’attribuer ce volet de retable ainsi que d’autres panneaux peints et une série de gravures sur bois au peintre strasbourgeois – peu connu jusqu’ici – Hans Schrotbanck. Les figures des vertus de Saint-Pierre-le-Jeune présentent également, par leur style et leurs motifs, des analogies avec le reste de l’œuvre de Schrotbanck. Ces dernières seraient difficiles à expliquer par le seul effet de modèle exercé par le retable de Lichtenthal. Concernant l’iconographie des allégories des vertus, le peintre s’est fondé sur les reliefs du socle du tabernacle d’Orcagna à Orsanmichele à Florence ce qui est surprenant. Cette donnée expliquerait quelle datation ? Le cycle des figures des vertus est-il dans son ensemble un produit de l’historicisme : une synthèse de Schäfer sur la base de modèles de provenance diverse ? Ou bien est-il plausible de considérer que vers 1900 on ait renouvelé des peintures murales datant d’environ 1500 et retrouvées in situ ? Le recours à un modèle italien est-il plus plausible autour de 1500 ou vers 1900 ? Les moyens d’analyse propres à l’histoire de l’art seuls ne permettent probablement pas d’y répondre ; mais les réflexions stylistiques peuvent orienter la poursuite des recherches archivistiques et la restauration.
Der reiche Bestand der Straßburger Kirche Jung St. Peter an mittelalterlichen Wandgemälden wurde, von wenigen Ausnahmen abgesehen, um 1900 bei einer von dem Pastor Wilhelm Horning (1843-1927) und dem Architekten Carl Schäfer (1844-1908) geleiteten Restaurierung des Gebäudes freigelegt und im Anschluss weitgehend übermalt.[1] Die Frage, inwiefern der neugotische Überlieferungszustand Rückschlüsse auf die ursprünglichen Malereien erlaubt, kann seit der Wiederentdeckung von Schäfers direkt nach der Freilegung aufgenommenen Aquarellen wenigstens teilweise beantwortet werden.[2] Ungesichert bleibt dabei die mittelalterliche Entstehung der vier Personifikationen der Kardinaltugenden im Chor. Sie werden in den Akten der Restaurierung ebenso wenig angeführt wie die anderen Wandgemälde.[3] In Hornings während der Restaurierung publizierten Schriften über die Kirche erscheinen die Tugenden nur marginal, wobei über ihren Ursprung nichts mitgeteilt wird.[4]
Zwei der Tugenden, Fortitudo und Prudentia, befinden sich an der Rückwand des Lettners und werden von offenkundig zugehörigen Inschriftenfeldern flankiert (Abb. 1-2), die beiden anderen, Temperantia (Abb. 3) und Iustitia, dagegen am anderen Ende des Chores, an der Innenfläche der Öffnung zur Scheitelkapelle. Die letzteren Figuren werden am Bogen durch ein Rankenornament verbunden, das so viele motivische Übereinstimmungen mit den Rückseiten der um 1900 neu gefertigten Hochaltarflügel zeigt,[5] dass man zumindest diesen Teil des Zyklus ganz auf Schäfers Entwurf zurückführen kann. Der Stilhabitus der Tugendfiguren selbst deutet jedoch annähernd auf die Zeit um 1500, allerdings stammt ihre sichtbare Oberfläche wohl insgesamt aus der Zeit der Restaurierung. Da mangels Quellen offen bleibt, ob es sich um die weitgehende Erneuerung von spätmittelalterlichen Befunden oder um eine Neuschöpfung Schäfers handelt, bleibt zu überlegen, bei welcher Datierung sich der Zyklus plausibler erklären lässt.
Das soll durch zwei Vorbemerkungen eingeleitet werden. Zum einen ist die Darstellung der zuerst von Platon festgeschriebenen und durch Cicero an das westliche Christentum vermittelten Vierergruppe[6] der Kardinaltugenden in einem Kirchenchor in monumentalem Format und eigenständig, nicht einem größeren Bildprogramm untergeordnet, nicht einmal in Verbindung mit den drei theologischen Tugenden, ein Kuriosum. Dabei ist die Platzierung der Straßburger Wandbilder durchaus sinnvoll: Sie flankieren die Eingänge zum Chorraum und können zugleich auf die vier Ecken desselben bezogen werden. Der Zyklus überträgt somit die aus dem Wort cardo (Angel, Eckpunkt) abgeleitete Bezeichnung der Kardinaltugenden in ein sinnfälliges Raumerlebnis. Dieses außergewöhnliche, doch schlüssige Bildprogramm setzt voraus, dass der Auftraggeber dem Thema der Kardinaltugenden ein besonderes Gewicht beilegte.
Die zweite Vorbemerkung betrifft die Vorbilder der Figuren. Zwei der Tugenden zeigen im Standmotiv, in den Faltenfigurationen und teilweise auch in kleineren Details wie der Krone genaue Übereinstimmung mit den Heiligenfiguren an einem Flügel des 1496 datierten ehemaligen Nonnenchorretabels der Abteikirche zu Lichtenthal bei Baden-Baden (Abb. 4). Die Prudentia entspricht spiegelbildlich der heiligen Helena,[7] die Temperantia wiederholt seitengerecht das Motiv der heiligen Apollonia. Für die Ikonografie der Kardinaltugenden hat der Straßburger Maler ein weiteres, keineswegs naheliegendes Vorbild herangezogen: Die Wahl der Attribute und auch einige inhaltlich nebensächliche Details zeigen nämlich eine enge Verbindung zu den Reliefs am Sockel von Orcagnas Tabernakel in Orsanmichele in Florenz. Bei Prudentia wurde außer der Schlange auch die Haltung und Verdeckung der freien Hand übernommen (Abb. 5). Bei Fortitudo bilden das Kreuz auf dem Schild und vor allem die Tracht des geflochtenen Haares Gemeinsamkeiten, die über die ikonografischen Selbstverständlichkeiten hinausgehen. Vor diesem Hintergrund kann auch die übereinstimmende Haltung der linken Hand beider Iustitia-Figuren nicht als Zufall bewertet werden. Der Zirkel von Temperantia ist schließlich eine ikonografische Besonderheit, das als Hauptattribut dieser Tugend m. W. nur bei Orcagna (um 1308-1368) und in Straßburg vorkommt.[8]
Was sagen diese Vorläufer über den Ursprung der Straßburger Wandgemälde aus? Es kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass Schäfer sie kannte. Alle lagen zu seiner Zeit auch in Reproduktionen vor.[9] Trotzdem würde der Rückgriff auf diese Bildquellen aus den Rahmen der Schäferschen Restaurierung fallen. Während der Erneuerung der übrigen Wandbilder in Jung St. Peter hielt er sich so gut wie konsequent an den stilistischen Maßstab der Manessischen Liederhandschrift, die seit 1887 in einem Faksimile vorlag.[10] Dieser Kodex war für Schäfer nicht bloß ein Repräsentant einer bestimmten Stilperiode, sondern eine Art Musterbuch seines Mittelaltervokabulars allgemein, das er etwa zur Ergänzung von ondulierten Haarmassen und parallelen Wasserwellen auch solcher Wandbilder heranzog, deren gut zweihundert Jahre spätere Entstehung ihm durchaus bekannt war.[11] Es erscheint daher weniger wahrscheinlich, dass er durch das Kopieren des Lichtenthaler Altars absichtlich von dieser Norm abwich; plausibler ist, dass der spätgotische Stil der Figuren durch freigelegte Reste vorgegeben wurde. Auch der Rückgriff auf Vorbilder aus dem italienischen Trecento wäre bei Schäfer singulär. Er und sein Auftraggeber haben nämlich selbst bei der Navicella an der Westwand der Kirche die ungleich bekanntere Vorlage Giottos im Atrium der vatikanischen Peterskirche sowohl in ihren Textkommentaren als auch in den Ergänzungen beschädigter Teile ignoriert.[12]
Wenn der Tugendzyklus trotz dieser Einwände doch eine Neuschöpfung Schäfers wäre, dann würde diese ungewöhnlich anspruchsvolle Kombination heterogener Vorlagen erwarten lassen, dass die für die Restaurierung um 1900 Verantwortlichen den Bildern und dem Thema ein besonderes Interesse entgegengebracht hätten. Davon ist nichts zu spüren. In den zahlreichen Berichten und Rechtfertigungsschriften, die Wilhelm Horning während und nach der Restaurierung veröffentlichte, werden die Tugendbilder meistens ganz oder teilweise vergessen, und auch wenn der Pastor ein einziges Mal alle vier Tugenden anführte, erwähnte er sie jeweils im Zusammenhang der Chorscheitelkapelle und des Lettners, die Beziehung beider Figurenpaare ist aus dem Text nicht erkennbar.[13] Unbehagen an diesem heidnisch-antiken Tugendkanon drückt sich darin aus, dass er emphatisch über „christliche Klugheit“ und so weiter sprach, ohne auszuführen, wie sich diese christliche von der sonstigen Klugheit unterscheidet und wie ihr christlicher Charakter an der ausgerechnet mit einer Schlange dargestellten Prudentia ablesbar sei.
Aufschlussreich sind auch die Inschriften an der Rückwand des Lettners. Die aus der Zeit der Restaurierung stammenden Texte sind Psalmenzitate, die sich nicht, wie man an dieser Stelle erwarten könnte, auf die Tugenden beziehen, sondern allgemein auf den Kultort und seine reiche Ausstattung.[14] Damit sprechen sie das Hauptthema von Hornings zeitgleichen Publikationen an. Der Pastor, ein prominenter Vertreter des Neuluthertums, stellte nämlich seine nach der Restaurierung farb- und figurenreich gewordene Kirche als ein Musterbeispiel eines der lutherischen Orthodoxie angepassten mittelalterlichen Kirchenraums vor.[15] Auch ikonografisch stehen die freigelegten Wandgemälde, so Horning, in keinem Widerspruch zu Luthers Theologie, und wenn das fallweise doch zutrifft, dann „hat Hr. Oberbaurat Schaefer schon vorhandene Malereien dem lutherischen Kultus angepasst“.[16] Dieses Prinzip verlangte mehrmals entschärfende Ergänzungen zu mittelalterlichen Bildern, die aus evangelischer Sicht problematisch erschienen.[17] Einmal kam es sogar zu einem zensorischen Eingriff: Im Marienbild an der Ostwand des Nordschiffes wurde „die von Engeln gehaltene Krone, dem protestantischen Kultus zu lieb, beseitigt“.[18]
Vom Gesichtspunkt der lutherischen Orthodoxie aus musste auch das Thema der Kardinaltugenden suspekt erscheinen. Luther (1483-1546) hatte ja mit der herkömmlichen Tugendethik radikal gebrochen, indem er die theologischen Tugenden als göttliche Gaben deutete und die weltlichen Tugenden antiker Provenienz für nichtig erklärte.[19] Die Frage war auch für Horning zentral. Er verfasste eine eigene Publikation gegen die Straßburger Nachfolger von Albrecht Ritschls (1822-1989) Rechtfertigungstheologie, deren Fokus auf die Moral nach Horning die Buße und den Glauben an die Erlösung untergrabe.[20] Kaum ein anderes Bildthema hätte also seinen theologischen Überzeugungen ferner gelegen als die vier Kardinaltugenden. Es ist schwer vorzustellen, dass er in seiner Kirche für die Neubemalung von leeren Wandflächen ausgerechnet dieses Thema gewählt hätte.[21]
Es stellt sich daher die Frage, ob sich der Tugendzyklus mit einer Entstehung um 1500 besser erklären lässt. Bei dieser Datierung wäre das Lichtenthaler Retabel nicht einfach als Vorbild der Straßburger Wandbilder anzusehen, sondern als ein Anhaltspunkt zu deren stilistischer Einordnung. An diesem Punkt muss ich meine bisher unpublizierten Untersuchungen zum Straßburger Maler Hans Schrotbanck in die Argumentation einbeziehen, deren Ergebnisse bei dieser Gelegenheit nur zusammengefasst, aber aus Umfangsgründen nicht näher untermauert werden können.[22] Hans Schrotbanck ist bisher als Verfasser von einigen astrologischen Drucken bekannt. Seine für 1502 und die nachfolgenden Jahre verfasste „Praktik“[23] enthält zwei allegorische Autorenbilder (Abb. 6), die inhaltlich und stilistisch aus den Rahmen der sonstigen Holzschnittproduktion durch den Drucker des Bandes fallen und somit als Werke des auch im Text als Maler bezeichneten Verfassers gelten dürfen. Von diesen Holzschnitten ausgehend kann man Schrotbanck eine Reihe von weiteren Werken zuschreiben, zuvorderst die großformatigen Einblattholzschnitte und die zahlreichen Buchillustrationen, die in den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts in der Pforzheimer Offizin von Thomas Anshelm (1465-1522/23) erschienen und in den Corpuswerken der Druckgrafik bisher irrtümlich unter dem Namen des Druckers firmieren. Außer den Pforzheimer Drucken können noch weitere Holzschnitte Schrotbanck zugeschrieben werden, unter denen die Waldseemüllersche Weltkarte von 1507 die größte Bedeutung hat. Auch Tafelgemälde ergänzen das Œuvre, so eine früher Ludwig Schongauer (um 1440-1494) zugeschriebene Serie von kleinen Szenen aus der Kindheit Jesu und etwa die Hälfte der malerischen Ausstattung des Lichtenthaler Nonnenchorretabels, zu der auch der mit den Tugendbildern zusammenhängende Flügel gehört.
Das ist für die Frage der Datierung der Straßburger Wandgemälde insofern von Bedeutung, als mehrere Details, die hier weder durch die Lichtenthaler, noch durch die Florentiner Vorlage direkt erklärt werden können, in Schrotbancks anderen Werken Parallelen finden. Ein solches Motiv ist der vor den Füßen der Fortitudo auf dem Boden fallende und dort ausgebreitete Mantelzipfel mit trichterförmigen Faltenwülsten, die nach dem Lichtenthaler Altar nicht kopiert werden konnten, aber in Schrotbancks anderen Werken in ähnlichen Figurationen wieder begegnen (Abb. 7-9).[24] Der dichte, fast chaotisch anmutende Faltenstau am Ärmel derselben Tugendfigur ist ein weiteres schrotbanckisches Stilmerkmal,[25] das allein anhand des Lichtenthaler Altars nicht imitiert werden konnte (Abb. 10-11).
Es soll nicht verschwiegen werden, dass diese und ähnliche Vergleiche sich auf kleinere Bereiche beschränken und keine zwingende Kraft haben. Ein stärkeres Argument bildet der auffallend grafische Charakter der Modellierung der Draperien. Die Modellierung durch Tonübergänge spielt hier eine ganz geringe Rolle, die größeren dunklen Stellen sind schraffiert wie in einer Federzeichnung, die tiefen Faltenrillen wurden nicht mit Schatten ausgefüllt, sondern mit dünnen Linien umkonturiert, die Form von eigentlich abgerundeten Auswölbungen wurde durch scharfe bogenläufige Kantenlinien kenntlich gemacht. Eine solche Modellierung der Gewandflächen ist den übrigen um 1900 restaurierten Wandgemälden der Kirche, aber auch der durch feine Übergänge gekennzeichneten malerischen Ausführung in Lichtenthal völlig fremd. Wo man sie wiederfindet, sind vielmehr die grafischen Werke Schrotbancks. Besonders die hakenförmigen Endungen von schmalen Faltengräben und die Kantenlinien der um diese herumlaufenden Faltenwülste erinnern an entsprechende Details der Holzschnitte (Abb. 12). Die Wandgemälde machen den Eindruck, als ob sie um 1900 aufgrund mehr oder weniger gut erhaltener authentischer Vorzeichnungen rekonstruiert worden wären. Ob im Zuge dieser Rekonstruktion etwas von der originalen Substanz bewahrt worden ist, muss allerdings dahingestellt bleiben.
Nach dieser Zwischenbilanz soll nun die Frage gestellt werden, ob die Kenntnis von Orcagnas Reliefs um 1500 in Straßburg überhaupt denkbar ist. Die Frage möchte ich durch den Hinweis auf einen Straßburger Humanisten beantworten, der eventuell auch als Auftraggeber der Tugendbilder in Frage kommen kann, und dessen Lebenslauf und Interessen zumindest allgemein mögliche Vermittlungswege der italienischen Bildmotive aufzeigen. Thomas Wolf der Jüngere[26] war seit 1487 Kanoniker an Jung St. Peter,[27] seit 1492 studierte er Jura in Bologna,[28] nach seiner Rückkehr im Jahr 1501 wurde er ein enger Mitarbeiter und Mitstreiter Jakob Wimpfelings (1450-1528).[29] Seinen Ruf in der Humanismusforschung verdankt Wolf seiner Inschriftensammlung, die er von Italien mitbrachte und die einen wichtigen Anstoß für die Renaissance-Epigrafik im süddeutschen Raum gab. Das verschollene Manuskript ist uns in erster Linie durch eine Teilkopie von Bonifacius Amerbach (1495-1562) bekannt.[30] Den größeren Teil des Materials kopierte Wolf wohl aus ähnlichen Sammlungen, doch auch der Zeitgenossenbericht von Ulrich Zasius (1461-1535), nach dem Wolf in Rom in situ Inschriften sammelte, kann teilweise zutreffen.[31] Nach eigener Aussage interessierte sich Wolf für römische Altertümer auch jenseits der Epigrafik und hatte vor, seine durch Autopsie gesammelten Kenntnisse in einem eigenen Buch zu verarbeiten.[32] In Amerbachs Manuskript sind auch Zeichnungen auf die Wolfsche Vorlage zurückzuführen, die zwar auch Texte enthalten, in der Hauptsache dennoch als moderne ikonografische Kuriosa Aufmerksamkeit beanspruchten.[33] Sie deuten die Vermittlungswege, die Medien und den intellektuellen Kontext an, die das Auftauchen der Motive von Orcagnas Tugendfiguren in Straßburg möglich machten.
Wolfs epigrafische Tätigkeit ist auch in anderer Hinsicht erhellend. In Straßburg sind mehrere Inschriftensteine erhalten, die Wolf entwarf und herstellen ließ. In Jung St. Peter befindet sich das Epitaph seines 1504 verstorbenen Bruders Amandus (Abb. 13), in der Wilhelmskirche ließ er im selben Jahr einen Gedenkstein für Jakob Wimpfeling aufstellen.[34] Beide sind Pionierwerke der antikisierenden Epigrafik am Oberrhein, auch wenn sie in mancher Hinsicht noch nicht der klassischen Norm der Renaissance-Kapitalis entsprechen. Besonders auffallend ist an beiden Steinen die exzessive Verwendung von Enklaven, die in dieser Form keinem antiken Usus folgen, mit ihrem dekorativen Reichtum eher Wolfs Gespür für das Visuelle vor Augen führen. Diesen Steintafeln ist noch der Deckel des hochmittelalterlichen Sarkophags des karolingerzeitlichen Bischofs Adelochus in der Straßburger Thomaskirche anzuschließen (Abb. 14).[35] Der epigraphische Befund zeigt, dass auch diese Inschrift sehr wahrscheinlich von Wolf entworfen wurde.[36] Diese Ergänzung zu seinem Œuvre erhellt die Tendenz von Wolfs Inschriftensetzungen: Er baute in den Straßburger Kirchen ein Netz von visuellen Akzenten auf, deren neuartige Erscheinung die öffentliche Präsenz einer neuen, humanistischen Kultur stärken sollte.
In diese Tendenz würden sich auch die Wandbilder der Kardinaltugenden gut einfügen. Es ist wohl kein Zufall, dass die Allegorien im Chor der Stiftskirche, also im Bereich der Kanoniker platziert, quasi als Eckpfosten des Gebäudes der Geistlichkeit eingestellt wurden. Die Tugendlehre des Weltpriestertums, die Anprangerung der Missstände im Klerus, die Forderung, dass Pfarrer und Chorherren zur Avantgarde der moralischen Erneuerung der christlichen Welt werden sollen – diese Themen sind der Dreh- und Angelpunkt der publizistischen Tätigkeit des Wimpfeling-Kreises.[37] Wenn eine entsprechende Mahnung an die Kanoniker des Jung St. Peter-Stiftes ausgerechnet in den Figuren der vier Kardinaltugenden konkretisiert wurde, dann verdient das eine besondere Beachtung. Bei einer Datierung kurz nach 1500 wäre der Straßburger Zyklus nach einer Pause von mehreren Jahrhunderten eine der ersten bildlichen Darstellungen dieser Vierergruppe im deutschen Sprachraum überhaupt. Nur die um die Mitte der 1490-er Jahre in Nürnberg nach den Mantegna-Tarocchi kopierten Holzschnitte eines unveröffentlichten Buchprojektes wären früher anzusetzen.[38] Die Darstellung der Kardinaltugenden setzt in dieser Frühzeit einen italienischen Konnex und eine bewusste Rezeption der ciceronianischen Ethik voraus. In letzterer Hinsicht bietet das Epitaph für Amandus Wolf wieder einen Anhaltspunkt. Hier steht nämlich anstelle des von Tacitus entlehnten Wahlspruchs Spreta invidia, den Thomas Wolf in seinen beiden Wappenholzschnitten[39] und auch an der Gedenktafel für Wimpfeling verwandte, ein anderer: Comite virtute, von der Tugend begleitet. Es handelt sich um eine Paraphrase nach einem Brief von Cicero: omnia summa consecutus es virtute duce, comite fortuna.[40] Die Inschrift ist somit ein unmissverständliches Bekenntnis zur Ethik Ciceros, wenige Meter von den Tugendbildern entfernt.
Damit schließt sich der Kreis. Es konnte nicht mit letzter Gewissheit festgestellt werden, ob der Straßburger Tugendzyklus, heute in seiner materiellen Substanz ein Werk des Historismus, auf einen Vorläufer aus der Zeit von Hans Schrotbanck und Thomas Wolf zurückgeht. Man geht aber mit der Behauptung nicht zu weit, dass dieser Zyklus seinen kunst- und geistesgeschichtlichen Ort um 1500 viel besser als vierhundert Jahre später finden kann. Und bei dieser Datierung würde er eine Schlüsselposition in der humanistischen Ikonografie einnehmen.
[1] Zu den Wandbildern der Kirche und ihrer Restaurierung um 1900 liegen aus jüngerer Zeit mehrere Untersuchungen vor: Albert CHÂTELET, « Strasbourg, église Saint-Pierre-le-Jeune. Les fresques », in: Congrès archéologique de France, 162e session. Strasbourg et Basse-Alsace, Tagung Strasbourg, 2004, Paris, Société française d’archéologie, Musée des monuments français, 2006, S. 227-231; Anne VUILLEMARD-JENN, « Entre gothique et néogothique : les polychromies de Saint-Pierre-le-Jeune de Strasbourg et la réception des travaux de Carl Schäfer », Cahiers alsaciens d’archéologie, d’art et d’histoire, 56, 2013, S. 177-193; Anne VUILLEMARD-JENN, « Peintures murales et polychromies médiévales de Saint-Pierre-le-Jeune de Strasbourg : de la version néogothique de Carl Schäfer à la restauration actuelle », in: G. VICTOIR u. a. (Hrsg.), 1994-2014. Vingt années de découvertes de peintures monumentales. Bilans et perspectives, Tagung Noyon, 27-29. März 2014, Montpellier, Presses universitaires de la Méditerranée, 2018, S. 221-236. Die Forschung zur vorliegenden Arbeit wurde von der Alexander von Humboldt-Stiftung sowie vom Bolyai-Stipendium der Ungarischen Akademie der Wissenschaften gefördert. Ich habe großzügige kollegiale Unterstützung von Anne Vuillemard-Jenn erhalten, wofür ich auch an dieser Stelle danken möchte.
[2] Archives de la Ville et l’Eurométropole de Strasbourg, 316 MW 31-46. Zur Wiederentdeckung der Aquarelle und ihrer Verwendung in der Forschung s. Hans ZUMSTEIN, « Die Zeichnungen nach den um 1900 freigelegten Originalmalereien der Jung-Sankt-Peter-Kirche », Cahiers alsaciens d’archéologie, d’art et d’histoire, 39, 1996, S. 109-121; Albert CHÂTELET, « Retour sur la Navicella », Revue d’Alsace 122, 1996, S. 201-208; sowie die in Anm. 1. angeführte Literatur.
[3] Vgl. Archives de la Ville et l’Eurométropole de Strasbourg, 3 MW 138-139 (alte Signatur: D IV 370).
[4] Wilhelm HORNING, Kurzer Führer durch die 1897-1901 restaurierte Jung St. Peter-Stiftskirche, Straßburg, Buchdruckerei Hertzer, Hubert & Fritsch, 1901, S. 5 (zum Lettner): „Hinten: 2 weibliche Figuren: die christliche Tapferkeit und die christliche Klugheit“, S. 6 (zur Chorscheitelkapelle): „Im Thürbogen links: Weibliche Figur mit dem Maß (die christliche Mäßigkeit); rechts: Weibliche Figur mit der Wage (die christliche Gerechtigkeit)“; Wilhelm HORNING, Zur Geschichte der Restaurierung der Jung St. Peter-Stiftskirche zu Straßburg, 1897-1901, Straßburg, Buchdruckerei Hertzer, Hubert & Fritsch, 1901, S. 4 (zur Chorscheitelkapelle): „2 christliche Tugenden rechts und links im Eingangsbogen, in Gestalt von Frauen mit der Wage und dem Kompaß – Gerechtigkeit und Mäßigkeit“ (in dieser Publikation werden die Figuren am Lettner nicht erwähnt). Das sind die ersten und letzten Erwähnungen der Tugendbilder im Druck. Der Textzusammenhang der zitierten Stellen hilft leider nicht, die Entstehungszeit der Tugendbilder zu erschließen: Horning zeigt sich in diesen Schriften unsystematisch in der Unterscheidung von Vorgefundenem und Neugeschaffenem, bei den Wandbildern verzichtet er auf Hinweise auf die Freilegung und gibt im Prinzip nur eine ikonografische Beschreibung des renovierten Zustandes. Die Erwähnungen der Tugendfiguren im Jahr 1901 stellen allerdings einen zwingenden Terminus ante quem ihrer Restaurierung dar. Diese fand höchstwahrscheinlich 1898 statt, am 29. August dieses Jahres wurde nämlich die korrigierte Abrechnung der Restaurierung des Chores und ein Kostenvoranschlag für die übrige Kirche eingereicht: Archives de la Ville et l’Eurométropole de Strasbourg, 3 MW 138, Nr. 93-94.
[5] Zu den Flügeln des Hochaltars vgl. Wilhelm HORNING, Mittheilungen aus der Geschichte der Jung-St.-Peterkirche, Straßburg, J. H. Ed. Heitz, 1898, S. 32-33; HORNING, Führer, op. cit., 1901, S. 7; HORNING, Geschichte, op. cit., 1901, S. 4. Einzelne Motive der Ornamentik des Kapellendurchgangs und der Hochaltarflügel sind auch an den von Schäfer entworfenen Bänken wiederzuerkennen.
[6] Platon, Politeia, 427e-435d; Cicero, De officiis, I. Zur Rezeption im Mittelalter vgl. István P. BEJCZY, The Cardinal Virtues in the Middle Ages. A Study in Moral Thought from the Fourth to the Fourteenth Century, Leiden, Boston, Brill, 2011.
[7] Die Helena in Lichtenthal geht ihrerseits spiegelbildlich auf einen Kupferstich mit derselben Heiligen des Monogrammisten FVB zurück; vgl. Max Lehrs, Geschichte und kritischer Katalog des deutschen, niederländischen und französischen Kupferstichs im xv. Jahrhundert, Bd. 7, Wien, Gesellschaft für Vervielfältigende Kunst, 1930, S. 153-154, Nr. 46. Die Straßburger Prudentia entspricht also seitengerecht dem Kupferstich, die einzelnen Faltenformen zeigen aber eine eindeutig engere Beziehung zum Lichtenthaler Gemälde.
[8] Lynn WHITE Jr., « The Iconography of Temperantia and the Virtuousness of Technology », in: T. K. RABB und J. E. SEIGEL (Hrsg.), Action and Conviction in Early Modern Europe. Essays in Memory of E. H. Harbison, Princeton, Princeton University Press, 1969, S. 197-219, bes. S. 207-208; Michaela BAUTZ, Virtutes. Studien zu Funktion und Ikonographie der Tugenden im Mittelalter und im 16. Jahrhundert, Berlin, dissertation.de, 1999, S. 298.
[9] Für das Lichtenthaler Gemälde s. das Foto in Gabriel von TÉREY, Die Gemälde des Hans Baldung, gen. Grien in Lichtdruck-Nachbildungen nach den Originalen, Straßburg, J. H. Ed. Heitz & Mündel, 1896, Bd. 2, Taf. 109. Für die Florentiner Reliefs s. den Kupferstich in Giovanni MASSELLI (Hrsg.), Il tabernacolo della Madonna d’Orsanmichele, lavoro insigne di Andrea Orcagna e altre sculture di eccellenti maestri le quali adornano la loggia e la chiesa predetta, Firenze, D. Passigli, 1851, Taf. 7, sowie die Prudentia in Alfred de SURIGNY, « Le tabernacle de la Vierge dans l’église Or-San-Michele à Florence », Annales Archéologiques, 26, 1869, Tafel nach S. 152.
[10] Franz Xaver KRAUS, Die Miniaturen der Manesse’schen Liederhandschrift, Straßburg, Karl J. Trübner, 1887. Zur Verwendung dieser Vorlage durch Schäfer vgl. Albert CHÂTELET, « Première approche des peintures murales de Saint-Pierre-le-Jeune », Cahiers alsaciens d’archéologie, d’art et d’histoire, 24, 1981, S. 95-101, bes. S. 100; VUILLEMARD-JENN, op. cit., 2018, S. 232, 234.
[11] Ein Beispiel dafür stellen die Wandbilder der Pietà und der Taufe Christi dar, die angeblich nach an anderer Stelle in der Kirche gefundenen Malereiresten gemalt wurden. Bei diesen Bildern legen Komposition und Figurenaufbau eine Datierung in das frühe 16. Jahrhundert nahe, auch Horning bezeichnete sie als „spätgotisch“. Vgl. HORNING, Geschichte, op. cit., 1901, S. 9.
[12] Zur Restaurierung des Straßburger Navicella-Bildes: CHÂTELET, op. cit., 1996, S. 202-203; VUILLEMARD-JENN, op. cit., 2018, S. 231-232. Die Halbfiguren auf den Wolken, die Windpersonifikationen, die Körperhaltung von Christus und die ganze untere Zone sind die Bereiche, an denen Schäfers Rekonstruktion des Straßburger Wandbildes von der italienischen Bildüberlieferung besonders markant abweicht, und ausgerechnet diese Teile des Wandbildes waren nach dem Zeugnis des nach der Freilegung aufgenommenen Aquarells (Archives de la Ville et l’Eurométropole de Strasbourg, 316 MW 40) undeutlich oder gar nicht erhalten. Auch der Pastor verband den Straßburger Fund nicht mit Giottos Mosaik: Horning, Geschichte, op. cit., 1901, S. 9; HORNING, Führer, op. cit., 1901, S. 12.
[13] S. oben, Anm. 4.
[14] Links: „Ich halte mich, Herr, zu deinem Altar, da man hoeret die Stimme des Dankens und da man prediget deine Wunder. Herr, ich habe lieb die Staette deines Hauses und den Ort da deine Ehre wohnet“ (vgl. Ps 26,6-8). Rechts: „Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth! Meine Seele verlanget und sehnet sich nach den Vorhoefen des Herrn, mein Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott. Wohl denen die in deinem Hause wohnen die loben dich immerdar“ (vgl. Ps 84,2-3 und 5). Die Zitate sind der Lutherbibel entnommen, außerdem zeugen auch das saubere Schriftbild und das Fehlen von Abkürzungen davon, dass zumindest die Texte der Inschriften nicht auf mittelalterliche Vorgänger zurückgehen.
[15] Schon vor den Renovierungsarbeiten bezeichnete Horning das weiß übertünchte Kircheninnere als Ergebnis einer unlutherischen Abirrung der frühen Reformatoren in Straßburg: Wilhelm HORNING, « Geschichtlich-erbaulicher Gang durch das Innere der Jung St. Peterkirche vor ihrer Restaurierung », Monatsblatt für Christen unveränderter Augsburgischer Konfession in Elsass-Lothringen, 9, 1894, S. 189-197, 213-217, 229-232, 244-246, zur Frage der Bilder in evangelischen Kirchen: S. 230-231. Nach der Freilegung der früher unbekannten Wandgemälde wurden anscheinend Stimmen laut, die Horning eine Neigung zum katholischen Kultus vorwarfen. Diesen entgegnete der Pastor sowohl in Zeitungsartikeln für eine breitere Leserschaft (Wilhelm HORNING, « Die Wandgemälde und Statuen in der restaurierten Jung St. Peterkirche », Theologische Blätter zur Beleuchtung der Gegenwart, N.F. 7, 1900, o. S.) als auch in seinen ausführlicheren Berichten über die Kirchenrenovierung (HORNING, op. cit., 1898, S. 37-53; Wilhelm Horning, Die restaurierte Jung St. Peter-Stiftskirche vom Gesichtspunkt des konfessionellen Bedürfnisses, Straßburg, Buchdruckerei Hertzer, Hubert & Fritsch, 1901).
[16] HORNING, op. cit., 1900.
[17] Das an der Südwand des Chors aufgestellte spätgotische Relief mit der kombinierten Darstellung der Schlüsselübergabe an Petrus und des Sudariums zwischen den Apostelfürsten bietet ein Beispiel für dieses Phänomen. Es gibt kaum ein Bildthema, das enger mit Rom und dem Papsttum verbunden wäre. Horning hat das Relief trotzdem nicht entfernt, sondern ließ in der Nähe ein neues Gemälde mit der „Schlüsselabgabe an die Jüngergemeinde“ anbringen (HORNING, op. cit., 1898, S. 32), wohl um den durch das Relief suggerierten Primat Petri zu relativieren. (Vgl. auch die Bemerkung in HORNING, Gesichtspunkt, op. cit., 1901, S. 5: „Sodann ist es [der Petrus übergebene Schlüssel – G.E.] aber kein anderer Schlüssel, als den auch die übrigen Apostel empfangen haben“.) Die Navicella, deren Original im Vatikan das päpstliche Propagandabild schlechthin war, erhielt nach der Restaurierung eine ganz neue Bedeutung: Die Übermalung der Windallegorien zu Teufeln und die Besiedlung des Wassers mit dämonischen Wesen stellen auch Petrus nicht als den Vorrangigen unter den Aposteln dar, sondern als Exempel des Christenmenschen, der von Christus die Rettung von den Sünden erhofft. (Die Interpretation der Nebenfiguren als Teufel war anscheinend auch zur Zeit der Restaurierung nicht unumstritten; vgl. ibidem, S. 6.)
[18] HORNING, Geschichte, op. cit., 1901, S. 8. Zum Zustand vor der Restaurierung s. das Aquarell in Archives de la Ville et l’Eurométropole de Strasbourg, 316 MW 38.
[19] Vgl. Jochen SCHMIDT, « „Die höchste Tugend ist: Leiden und Tragen alle Gebrechlichkeit unserer Brüder“. Luthers Tugendethik als Ethik der Wahrnehmung », Luther, 86, 2015, S. 8-20.
[20] Wilhelm HORNING, Streifzüge in das Gebiet der Straßburger theologischen Fakultät, Nr. 4, Die Professur der praktischen Theologie vertreten durch Dr. Spitta und Dr. Smend, Straßburg, Selbstverlag, 1904, bes. S. 13 (der Pastor zitiert hier zustimmend eine Schrift seines Vetters Alfred Horning von 1892). Vgl. auch Marc LIENHARD, « Le confessionnalisme luthérien et la Faculté de théologie de Strasbourg (1872-1910) », Bulletin de la Société de l’histoire du protestantisme français, 136, 1990, S. 65-75, bes. S. 71.
[21] Vor dem Hintergrund der in Anm. 17. genannten Beispiele erscheint es möglich, auch die vom Lettner durch die Mittelachse des Chors zum Altar führende Bleiverzierung des Fußbodens als eine Kompensation für die Erhaltung der Bilder der Kardinaltugenden zu deuten. Diese als „Himmelstraße oder Tugendpfad“ (HORNING, Führer, op. cit., 1901, S. 7) bezeichnete Dekoration ist von aquatischen Mischwesen bevölkert, die nicht nur der Form nach ans Meeresvolk der Navicella erinnern: Als „eine symbolische Darstellung des Siegesganges eines Christen über das Böse“ (HORNING, Geschichte, op. cit., 1901, S. 5) wandelt der Fußboden den darauf voranschreitenden Gläubigen quasi in eine ikonografische Parallele des auf dem Wasser gehenden Petrus. Für beide führt der Weg zur Tugend, wie von Luther gelehrt, durch das Sündenbewusstsein und nicht durch positive Verhaltensmuster, an die die weltlichen Tugendallegorien gemahnen.
[22] Diese Untersuchungen sollen künftig in eine Monographie münden, vorläufig vgl. Gábor ENDRŐDI, « Schrotbanck, Hans (Hanns) », in: Allgemeines Künstlerlexikon, Bd. 102, Berlin und Boston, De Gruyter, 2019, S. 227 (dort auch die wichtigste Literatur zu den bisher gesondert behandelten Werkgruppen).
[23] Hans SCHROTBANCK, Prattica dütsch…, Straßburg, Bartholomäus Kistler, 1502 (VD16 S 4314).
[24] Vgl. etwa die auf den Boden fallenden Mantelenden der Hauptfiguren auf dem von Anshelm gedruckten großen Einblattholzschnitt der Hl. Sippe (Max GEISBERG, Der deutsche Einblatt-Holzschnitt in der ersten Hälfte des XVI. Jahrhunderts, München, Hugo Schmidt, 1923-1930, Lfg. 21, Taf. 2) oder das vor dem Knie hängende Lendentuch des Heiligen auf dem Holzschnitt der Sebastiansmarter, der aus derselben Offizin stammt (ibidem, Lfg. 20, Taf. 1).
[25] Beispiele dafür bieten etwa die Figuren zum Matthäusevangelium im Rationarium evangelistarum, Pforzheim, Thomas Anshelm, 1502 (VD16 P 1904 und zahlreiche weitere Ausgaben) oder die Halbfiguren von Ptolemaios und Vespucci auf der Waldseemüllerschen Weltkarte.
[26] Zu seiner Person immer noch grundlegend: Charles SCHMIDT, Histoire littéraire de l’Alsace à la fin du XVe et au commencement du XVIe siècle, Paris, Sandoz et Fischbacher, 1879, S. 58-86. Zum aktuellen Kenntnisstand: Franz Josef Worstbrock, « Wolf (Wolfius), Thomas, d. J. », in: Deutscher Humanismus, 1480-1520. Verfasserlexikon, Bd. 2, Berlin und Boston, De Gruyter, 2013, Sp. 1404-1420.
[27] Al. MEISTER, « Auszüge aus den Rechnungsbüchern der Camera Apostolica zur Geschichte der Kirchen des Bistums Strassburg, 1415-1513 », Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, 46, 1892, S. 104-151, bes. S. 131.
[28] Gustav C. KNOD, Deutsche Studenten in Bologna (1289-1562). Biographischer Index zu den Acta nationis Germanicae universitatis Bononiensis, Berlin, R. v. Decker, 1899, S. 642.
[29] Außer der in Anm. 26 angeführten Literatur vgl. Otto HERDING (Hrsg.), Jakob Wimpfelings Adolescentia, München, Wilhelm Fink, 1965, S. 144-151.
[30] Universitätsbibliothek Basel, C VIa 72. Vgl. Charles SCHMIDT, « Note sur un recueil d’inscriptions fait par Thomas Wolf, de Strasbourg, au commencement du seizième siècle », Bulletin de la Société pour la conservation des monuments historiques d’Alsace, 2. sér., 9, 1874-1875, S. 156-160; Dieter MERTENS, « Oberrheinische Humanisten um 1500 als Sammler und Verfasser von Inschriften », in: Chr. MAGIN (Hrsg.), Traditionen, Zäsuren, Umbrüche. Inschriften des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit im historischen Kontext, Tagung Greifswald, 9.-12. Mai 2007, Wiesbaden, Reichert, 2008, S. 149-164, bes. S. 153-156; Jose CÁCERES, « Amerbachiorium Inscriptiones Latinae: Epigraphik, Geschichte und Rhetorik im Basler Humanismus. Ein Versuch », Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte, 73, 2016, S. 45-54.
[31] S. dessen Widmungsepistel an Wolf in Konrad PEUTINGER, Sermones convivales de mirandis Germanie antiquitatibus, Straßburg, Johann Prüß, 1506 (VD16 P 2081), fol. a3r.
[32] Sammelband mit Thomas WOLF, In psalmum benedicam, Straßburg, Johann Knobloch, 1507 (VD16 B 1949), fol. E2r-v.
[33] Für die Seitenzahlen s. SCHMIDT, op. cit., 1874-1875, S. 160, Anm. 1, wo diese Zeichnungen als Zutaten des Kopierers Amerbach bezeichnet werden. Bei der Zeichnung auf S. 57, die einen jungen Mann zeigt mit einem Sieb und dem Spruchband SIC NIHIL OCCVLTVM (CÁCERES, op. cit., 2016, Abb. 3), spricht es entschieden gegen diese Einordnung, dass ausgerechnet auf der Versoseite dieses Blattes ein Hinweis von Amerbachs Hand steht, dass jene Seite auch im Wolfschen Original leer gewesen sei (MERTENS, op. cit., 2008, S. 154, Anm. 22). Die Kleidung und die Haartracht des Mannes sprechen für eine italienische Bildquelle aus dem späten Quattrocento, was wiederum am einfachsten durch Wolfs Vermittlung zu erklären ist. Die zwischen 1513 und 1515 datierte Kopie Amerbachs diente wohl als Vorlage einer holzgeschnittenen Texteinfassung (Novum testamentum omne ad Graecam veritatem…, Basel, Johann Froben, 1521 [VD16 B 4223], fol. [β5]r), die eine üppig gekleidete Frauenfigur mit demselben Attribut und Text zeigt. Diese Weiterverwendung des Motivs bietet ein dokumentiertes Beispiel für die Vermittlerrolle Wolfs zwischen italienischen Bildvorlagen und der humanistischen Ikonografie am Oberrhein, wie sie bei den Straßburger Tugendbildern nur hypothetisch formuliert werden kann.
[34] In beiden Epitaphien taucht auch der Name von Thomas Wolf auf, und im unteren Teil der Tafeln erscheint jeweils auch sein Wappen. Beide scheinen in der modernen epigrafischen Forschung unerwähnt zu sein. Ihre Bedeutung lässt sich dabei auch an ihrer Vorbildlichkeit für Beatus Rhenanus erkennen; die von diesem für seinen Großvater und Vater entworfene Gedenktafel (Schlettstadt, St. Georg) ist nämlich sehr ähnlich komponiert.
[35] Dass der Deckel des auf das 12. Jahrhundert datierten Sarkophags erst im 16. Jahrhundert entstand, wurde bereits in der früheren Forschung erkannt: Julius BAUM, « Das Portal der Klosterkirche zu Andlau », in: idem, Frühmittelalterliche Denkmäler der Schweiz und ihrer Nachbarländer, Bern, K. J. Wyss Erben, 1943, S. 61-73, bes. S. 70; Robert WILL, Répertoire de la sculpture romane de l’Alsace, Strasbourg und Paris, F.-X. Le Roux, 1955, S. 54.
[36] Das auffälligste Merkmal, das sowohl an den Epitaphen als auch am Deckel des Adelochussarkophags beobachtet werden kann, ist die zweckfreie, dekorative Nutzung von Enklaven. Außerdem zeigt auch die Buchstabengestaltung aufschlussreiche Übereinstimmungen: Der Querstrich des H liegt meist deutlich über der Mittelhöhe. Die beiden Vertikalschäfte des M sind gleich stark, der Winkel reicht oft nur bis zur halben Höhe. Beim P ist das untere Bogenende bis zum Schaft geschlossen. Der rechtsdiagonale Schaft von X läuft wellenlinig.
[37] Vgl. unter vielen anderen HERDING, op. cit., 1965, S. 132-138.
[38] Es handelt sich um den Archetypus triumphantis Romae von Peter Danhauser, zu dem zahlreiche Holzschnittillustrationen aus der Wolgemut-Werkstatt überliefert sind; vgl. Rainer SCHOCH, « „Archetypus triumphantis Romae“. Zu einem gescheiterten Buchprojekt des Nürnberger Frühhumanismus », in: U. MÜLLER u. a. (Hrsg.), 50 Jahre Sammler und Mäzen. Der Historische Verein Schweinfurt seinem Ehrenmitglied Dr. phil. h.c. Otto Schäfer (1912-2000) zum Gedenken, Schweinfurt, Historischer Verein Schweinfurt, 2001, S. 261-298, bes. S. 276, 289-290, Nr. 21-23.
[39] Einen kleinen Wappenholzschnitt benutzte Wolf als Exlibris, indem er den Druckstock mit Hand in seine Bücher stempelte. Zwei Fälle sind mir bekannt: Universitätsbibliothek Leipzig, Inc. Civ. Lips. 258; Universitätsbibliothek Mannheim, Ink. 38. Einen ähnlich angelegten, aber größeren und feineren Holzschnitt gab Wolf einem von ihm herausgegebenen Druckwerk bei: Sammelband mit Cornelius Nepos, Vita M. Catonis, Straßburg, Johann Prüß, 1505 (VD16 N 522), fol. [P4]v. Wie ein kürzlich im Kunsthandel aufgetauchter Band aus seiner Bibliothek zeigt, verwendete Wolf gelegentlich auch diesen Druckstock zu handgestempelten Exlibris-Drucken: Arenberg Auctions, Brüssel, 14.-15. Dezember 2018, lot 741. Der Spruch Spreta invidia, der auf beiden Holzschnitten und auf dem Wimpfeling-Epitaph in der Wilhelmskirche zu lesen ist, ist wohl aus Tacitus, Annales, XII, 67 entlehnt.
[40] Cicero, Epistulae ad familiares, X, 3,2.